Karl Marx und Friedrich Engels
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Friedrich Engels' Bremer Lehrjahre


von Johann-Günther König*

Der demokratische Sozialist Friedrich Engels wird 200 Jahre alt. Bevor ich gezielt auf seine Bremer Lehrjahre eingehe, folgt hier zunächst ein kurzer Überblick über seinen ganzen Lebenslauf.

Kurzbiographie

Friedrich Engels wurde am 28. November 1820 als ältestes von neun Kindern des erfolgreichen Textilunternehmers Friedrich Engels Senior und seiner Ehefrau Elisabeth in Barmen (heute Wuppertal) geboren. Ein Jahr vor dem Abitur verließ er auf Wunsch des Vaters das Elberfelder Gymnasium, um ab August 1838 eine Kaufmannslehre im Kontor des sächsischen Konsuls Heinrich Leupold in Bremen anzutreten. Nach zweieinhalb Jahren, als er „Fakturabücher und Konti“ wie überhaupt alle Besonderheiten des Großhandels beherrschte, zog es ihn im Frühjahr 1841 zum Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger bei der königlich-preußischen Garde-Artillerie in Berlin. Engels frequentierte zudem als Gasthörer in der Universität Philosophie- und andere Vorlesungen sowie Treffen linkshegelianischer Kreise. 1843 führte ihn der Vater in seine Baumwollspinnerei in Manchester ein. Durch die irische Fabrikarbeiterin Mary Burns lernte er die „Cottonopolis“ gerufene, von großen sozialen Gegensätzen und inhumanen Wohn- und Arbeitsbedingungen geprägte nordenglische Industriemetropole intensiv kennen.

Im Sommer 1844 stellten Engels und Marx bei einem Treffen in Paris ihre völlige Übereinstimmung in grundlegenden gesellschaftstheoretischen Anschauungen fest und begründeten ihre legendäre Zusammenarbeit. Nach seiner im Herbst 1844 erfolgten Rückkehr ins heimatliche Wuppertal verfasste Friedrich Engels seine bahnbrechende empirisch-sozialpolitische Studie: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, die erheblich das Denken von Karl Marx beeinflusste. Nachdem er 1844 seinen Essay „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“ publiziert hatte, drängte er Karl Marx, sich nachhaltig der Politischen Ökonomie zu widmen. Das Ergebnis ist bekannt: Das Kapital. 1846 zogen beide nach Brüssel und besuchten Manchester und London, wo sie 1847 dem Bund der Gerechten (später: Kommunisten) beitraten. Nachdem Friedrich Engels im Oktober 1847 die „Grundsätze des Kommunismus“ entworfen hatte, schrieb er mit Karl Marx das legendäre Manifest der Kommunistischen Partei: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. […] Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ Im Frühjahr 1849 nahm Engels an den Barrikadenkämpfen in Barmen und Elberfeld sowie am Badischen Aufstand teil. Nach der Niederlage floh er in die Schweiz und im November weiter nach England, wo Karl Marx in London bereits politische Aktivitäten entfaltete.

Von November 1849 bis zu seinem Tod am 5. August 1895 lebte Friedrich Engels im Mutterland der Industrialisierung. Zunächst entfaltete er publizistische und politische Aktivitäten im Exil London und brachte mit Marx die Neue Rheinische Zeitung. Politisch-ökonomische Revue heraus. In dem Blatt erschien auch seine Schrift Der deutsche Bauernkrieg. Als ihnen nach dem fünften Heft das Geld ausging, trat Friedrich Engels am Ende des Jahres 1850 erneut in das Unternehmen Ermen & Engels ein und verzog nach Man-chester. Dort verdiente der „Cotton-Lord“ so ausreichend Geld, dass er 45 Jahre lang den ständig von Geldsorgen geplagten Freund Marx und dessen Familie unterstützen konnte.

In den 1850er Jahren übernahm Friedrich Engels immer wieder auch Teile der Marx‘schen Korrespondenzen für die New-York Daily Tribune und andere Blätter, arbeitete an der New American Cyclopaedia mit und begann um 1858 mit naturwissenschaftlichen Studien. In Manchester führte er ein Doppelleben als Geschäftsmann und Sozialist und wohnte eben deshalb inoffiziell bei seiner Lebensgefährtin Mary und ihrer Schwester Lydia Burns. Als Mary im Januar 1863 im Alter von 42 Jahren plötzlich starb, ging er eine Lebenspartnerschaft mit Lydia (Lizzie; 1827–1878) ein. 1864 wurde Friedrich Teilhaber der Firma Ermen & Engels, und in London erfolgte die Gründungsversammlung der Inter-nationalen Arbeiterassoziation (I. Internationale), bei der Marx in deren Provisorisches Komitee gewählt wurde. Nachdem im September 1867 der erste Band von Marx‘ Kapital in Hamburg erschienen war, veröffentlichte Engels diverse Besprechungen. Zwei Jahre später beendete er den „hündischen Kommerz“ und zog nach London, wo er sich in der Nähe von Freund Marx als finanziell gut gestellter Privatgelehrter niederließ. Den Gründungskongress der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Eisenach verfolgte er im August 1869 mit großem Interesse.

In den 1870er Jahren trieben Friedrich Engels und Karl Marx ihre publizistischen Arbeiten voran und engagierten sich in der Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA). Nach dem Tod von Karl Marx am 14. März 1883 übernahm Friedrich Engels die Fertigstellung des zweiten Bandes von Das Kapital und gab ihn mit einem Vorwort 1885 heraus. Zudem entwickelte er in mühevoller Arbeit aus Marx‘ nachgelassenen Textkonvoluten und Entwürfen den dritten Band, der schließlich 1894 mit seinem Vorwort erschien. Engels erarbeitete darüber hinaus sein maßgebliches Werk Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats – es erschien 1884 in Zürich – und er entwickelte die Konzeption für eine Arbeit über die „Dialektik der Natur“, die aber unvollendet blieb. Als Friedrich Engels im Frühjahr 1895 mit der Vorbereitung einer Gesamtausgabe seiner und der Marx‘schen Werke begann, schwächelte er zunehmend. Nach einem letzten Kuraufenthalt im südenglischen Eastbourne verstarb er am 5. August in seinem Haus in London.

Friedrich Engels

Porträt von G.W.Feistkorn, 1840

Bremer Lehrjahre

In der Freien Hansestadt Bremen lebte, arbeitete und wirkte Friedrich Engels vom 11. August 1838 bis Ende März 1841. In dieser Zeit und an diesem Ort entwickelte er sich ungewöhnlich rasch zu einem weithin bekannten und anerkannten Publizisten. Allerdings nicht unter seinem eigenen Namen, das ließen seine Ausbildungssituation und der Respekt vor seinem Vater nicht zu, sondern unter dem Pseudonym Friedrich Oswald. Merkwürdigerweise hat Friedrich Engels zu Lebzeiten keinen einzigen Hinweis darauf gegeben, dass er und Friedrich Oswald identisch waren. Darüber hinaus schloss er sich den Junghegelianern an und legte als 18- bis 20-Jähriger den Grundstein zu all dem, was ihn später zu einem weltberühmten Mann und führenden Kopf der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung machen sollte.

Martinistr. 11

Martinikirche und Pfarrhaus



Nach seiner Ankunft in Bremen bezog der junge Engels Quartier bei Georg Gottfried Treviranus (1788-1866) und dessen warmherziger Frau Mathilde (1794-1878) im Pastorenhaus der St. Martini Kirche. Das geräumige Haus steht nicht mehr. Bei schönem Wetter zog es Friedrich Engels in den sich entlang der Weser erstreckenden Pfarrgarten. Tagsüber – auch sonntags musste bis zur Mittagszeit gearbeitet werden – saß er im Kontor seines Lehrherrn Heinrich Leupold, wo er rasch „Fakturabücher und Konti“ wie überhaupt alle Besonderheiten des Großhandels beherrschen lernte. Das gegenüber der St. Martini Kirche liegende imposante Wohn- und Packhaus des Königlich-Sächsischen Konsuls und Kaufmanns Heinrich Leupold (1798-1865), der vor allem mit Leinwand, aber auch mit Kaffee und Zigarren handelte, wurde 1897 abgebrochen. Die durch die Zeiten gerettete reizvolle Rokokofassade am Haus mit der Nr. 27 hält die Erinnerung an Engels‘ Tage in Bremen wach.

Martinistr. 11

Kurz vor dem Abbruch: Martinistraße No. 11

Um 1838 lebten in der Hansestadt rund 37.000 Menschen und in der ländlichen Vorstadt zusätzliche 12.000. Der Handel blühte und die rund 210 bremischen Seeschiffe fuhren Ziele in aller Welt an. Dass Bremen sich gerade zum größten europäischen Auswandererhafen entwickelte, entging Friedrich Engels nicht. 1840 verfasste er mit „Eine Fahrt nach Bremerhafen“ eine exzellente sozialkritische Reiseskizze über die katastrophalen Verhältnisse auf den Auswandererschiffen, in der nicht zuletzt die Ursachen der Emigration hinterleuchtet werden. Im Kontor des ziemlich liberalen Konsuls ging es zuweilen recht locker zu, wie Engels seiner Schwester Marie jugendlich übertreibend berichtete: „Gestern Nachmittag waren keine Arbeiten mehr zu tun, und der Alte war weg […]. So steckt’ ich mir eine Cigarre an, schrieb erst das Vorstehende an Dich, sodann nahm ich Lenau’s Faust aus dem Pulte und las darin. Nachher trank ich noch eine Flasche Bier […]. Gottlob! Ich hab meine Mittagsruh doch gehalten! Ich stahl mich aus dem Comptoir und nahm Cigarren und Streichhölzchen mit und bestellte Bier; dann schob ich auf den obersten Packhaussöller, und legte mich in die Hängematte und schaukelte mich äußerst sanft. Sodann ging ich auf den mittelsten Packhausboden, und packte zwei Kisten Platillas ein, wobei ich eine Cigarre und eine Flasche Bier verzehrte und stark schwitzte, denn es ist heute so warm…“

Martinistr. 11

Die Diele mit dem Kontorfenster



Friedrich Engels wurde während seiner Lehrzeit wohl nicht zu konsularischen Tätigkeiten herangezogen, profitierte aber zweifellos von den Erkenntnissen des Konsuls zu Handels-, Wirtschafts- und Auswanderungsthemen. Wie Heinrich Leupold äußerlich auf Engels wirkte, hat er in einer Zeichnung fixiert:

Martinistr. 11

Briefträger: Herr Consul, ein Brief! Engels: Nichts für mich? Consul: Aha! Gut. Briefträger: Nein.



Da sein Vater ihm ein Studium verwehrt hatte, regelte Friedrich Engels den Wissenserwerb als Autodidakt. Er verschlang besonders jene Literatur, die ihm in Barmen vorenthalten oder nur auszugsweise bekannt geworden war: demokratische Journale, diverse Zeitungen und Zeitschriften, Goethes Werke, Börnes Schriften, Volksbücher, nahezu alle jungdeutschen Neuerscheinungen etc. Engels setzte sich mit Werken von knapp zweihundert Verfassern schöngeistiger, philosophischer und religiöser Literatur auseinander und entwickelte sich dabei zu einem ungemein belesenen, sprachgewaltigen und stilsicheren Intellektuellen. Zugleich weitete er seine Stenographie- und Fremdsprachenkenntnisse deutlich aus.

Als Friedrich Engels seine kaufmännische Lehrzeit in Bremen antrat, wollte er insgeheim zugleich seine schriftstellerischen Pläne umsetzen und reichte einige Gedichte bei ortsansässigen Redaktionen ein. Als das Bremische Conversationsblatt am 16. September 1838 sein Gedicht „Die Beduinen“ anonym abdruckte, gab es für ihn kein Halten mehr. Erst recht nicht, als ab dem Januar 1839 in Karl Gutzkows namhaften Telegraph für Deutschland seine anonyme Reiseskizze Briefe aus dem Wupperthal in mehreren Folgen abgedruckt wurde. Sie rief ein lebhaftes Echo hervor und legte den Grund für seine Karriere als Essayist und Korrespondent.

Friedrich Engels reifte in Bremen zu einem bedeutenden Publizisten heran. Unter dem Pseudonym Friedrich Oswald lieferte er unermüdlich Essays und Korrespondenzen für den Telegraph sowie für die beiden damals einflussreichen Cottaschen Zeitungen Morgenblatt für gebildete Leser und Augsburger Allgemeine Zeitung, für die auch Heinrich Heine und Ludwig Börne schrieben. Seine Artikel zeugen von einer für sein Alter erstaunlichen Weitsicht. So skizzierte er nach dem Test des ersten schnellen Schraubendampfers im Herbst 1840 die bemerkenswerte Vision eines durch die Kombination verschiedener moderner Verkehrsmittel möglich werdenden Massentourismus:

„Ist dann einmal der Anfang einer Dampfpaketfahrt zwischen Deutschland und dem amerikanischen Kontinente gemacht, so wird die neue Einrichtung ohne Zweifel bald ausgebildet und von den größten Folgen für die Verbindung beider Länder werden. Die Zeit wird nicht lange mehr auf sich warten lassen, wo man aus jedem Teile Deutschlands in vierzehn Tagen New York erreichen, von dort aus in vierzehn Tagen die Sehenswürdigkeiten der Vereinigten Staaten beschauen und in vierzehn Tagen wieder zu Hause sein kann. Ein paar Eisenbahnen, ein paar Dampfschiffe, und die Sache ist fertig; seit Kant die Kategorien Raum und Zeit von der Anschauung des denkenden Geistes abgelöst hat, strebt die Menschheit mit Gewalt dahin, sich auch materiell von diesen Beschränkungen zu emanzipieren.“



Martinistr. 11

Das Haus der Union



Neben seiner Kontorarbeit und der umfangreichen schriftstellerischen Produktion fand der Fabrikantensohn hinlänglich ausreichend Zeit für das Zusammensein mit Freunden, Bekannten und Kaufleuten. So besuchte er regelmäßig die heute noch aktive Kaufmanns-Vereinigung Union von 1801 und das nicht mehr existente Museum am Domshof, wo er nur zu gern über wirtschaftliche und politische Themen diskutierte. Als „unläugbar das beste Institut in Bremen“ bezeichnete er den Bremer Ratskeller, der zuvor bereits Heinrich Heine und Wilhelm Hauff literarisch inspiriert hatte. Hier feierte „Friedrich Engels – oberster Poet im Bremer Rathskeller und privilegirter ZECHER“ besondere Anlässe wie etwa die Julirevolution von 1830.

Martinistr. 11

Zeichnung von Engels 1839



Friedrich Engels kannte sich bestens in den Buchhandlungen aus, besuchte Theateraufführungen und Konzerte. Zu Beginn des Jahres 1841 vermerkte er (alias Oswald) in einem Artikel über das bremische Kulturleben:

„Die beste Seite Bremens ist die Musik. Es wird in wenig Städten Deutschlands so viel und so gut musiziert wie hier. Eine verhältnismäßig sehr große Anzahl von Gesangvereinen hat sich gebildet, und die häufigen Konzerte sind immer stark besucht.“



Nach dem Weihnachtsfest 1838 begann er selbst mit dem Ausleben seiner musikalischen Neigungen und ließ darüber seine Lieblingsschwester Marie wissen: „Ich will Dir doch auch erzählen, daß ich jetzt am Componiren bin, und zwar mache ich Choräle. Es ist aber entsetzlich schwer, der Takt und die Kreuzer und die Accorde machen einem sehr viel zu schaffen. Bis jetzt habe ich es noch nicht weit gebracht, aber ich will Dir doch eine Probe hersetzen. Es sind die beiden ersten Zeilen vom: Ein’ feste Burg ist unser Gott.“ Da Engels das Komponieren letztlich nicht zusagte, beschloss er, sich der 1815 gegründeten Sing-Academie anzuschließen, die mit Laien beiderlei Geschlechts anspruchsvolle Chorwerke probte und aufführte. Deren Aufnahmebedingungen waren allerdings anspruchsvoll. Friedrich Engels musste „nicht nur die Elementarkenntnisse der Musik überhaupt“ nachweisen, sondern auch die „Bekanntschaft mit den Schlüsseln, Noten, Intervallen, Tact, Tonarten, usw.“, sowie über „eine bereits etwas ausgebildete Stimme, ein richtiges Gehör und einige Uebung im Treffen“ verfügen. Darüber hinaus hing sein Eintritt von der Zustimmung der Chormitglieder ab – „wenigstens 2/3 der Stimmen“ waren für eine Aufnahme nötig. Fest steht: am 28. Januar 1839 wurde „Herr Engels aus Barmen“ mit mehr als Zweidrittel der männlichen Mitgliederstimmen aufgenommen. Aus Engels’ Briefen geht hervor, dass er der Sing-Academie bis zum Ende seiner Bremer Zeit die Treue hielt. Freude am Chorgesang hatte er zweifellos. So schreibt er seinem Freund Wilhelm Graeber an einem Montag im Oktober 1839: „Heute einen furchtbar langweiligen Tag gehabt. Auf dem Comptoir halb todt geochst. Dann Singakademie gehabt, ungeheuren Genuß.“

Martinistr. 11

Uferhafen Schlachte mit der Martinikirche im Hintergrund



In Bremen legte Friedrich Engels unter dem zu jener Zeit weithin anerkannten Namen Friedrich Oswald den Grundstock für eine die Welt verändernde Karriere. Dabei lebte er in der Hansestadt gleichsam zwei Leben. Das eines freundlich zugewandten, warmherzigen Kaufmannsgehilfen, Pensionsgastes und trinkfesten Zechkumpanen. Und das unter Pseudonym geführte geistige Parallelleben als literatur-, gesellschafts- und religionskritischer Literat und Journalist. Das weltoffene Bremen bot dem hochbegabten Unternehmersohn Bedingungen, die für seinen nachgerade unglaublichen Entwicklungssprung mitentscheidend waren: einen Lehrherrn, der ungewöhnlich tolerant war, eine Pensionsfamilie, die ihm alle erdenklichen Freiheiten ließ, eine Zensurkommission, die sich merklich zurückhielt, eine gepflegte Musikkultur und Gesellschaften wie die Union oder das Museum, die die Bildung junger Kaufleute förderten. Kritiklos ließ der scharfe Beobachter Friedrich Engels die Bremerinnen und Bremer dennoch nicht davonkommen. In einem seiner Artikel für Cottas „Morgenblatt für gebildete Leser“ heißt es im Juli 1840:

„Im Übrigen ist das hiesige Leben ziemlich einförmig und kleinstädtisch; die haute volée, d. h. die Familien der Patrizier und Geldaristokraten, sind den Sommer über auf ihren Landgütern, die Damen der mittlern Stände können sich auch in der schönen Jahreszeit nicht von ihren Teekränzchen, wo Karten gespielt und die Zunge geübt wird, losreißen, und die Kaufleute besuchen Tag für Tag das Museum, die Börsenhalle oder die Union, um über Kaffee- und Tabakspreise, und den Stand der Unterhandlungen mit dem Zollverband zu sprechen; das Theater wird wenig besucht. – Eine Teilnahme an der fortlaufenden Literatur des Gesamtvaterlandes findet hier nicht statt […]. Man ist in einem Lesezirkel abonniert, teils der Mode halber, teils um bei einem Journal bequemer Siesta halten zu können; aber Interesse erregt nur der Skandal und Alles, was etwa über Bremen in den Blättern gesagt wird. Bei vielen der Gebildeten mag diese Apathie freilich in dem Mangel an Muße begründet sein, denn besonders der Kaufmann ist hier gezwungen, sein Geschäft stets im Kopfe zu behalten, und den etwaigen Rest der Zeit nimmt die Etikette unter der meist sehr zahlreichen Verwandtschaft, Besuche etc. in Anspruch.“



Hinsichtlich seines geistigen Parallellebens ließ sich Engels nicht in die Karten schauen. So bekam Pastor Georg Gottfried Treviranus weder von seinen in Bremen einsetzenden religiösen Emanzipationskämpfen und dem Abfall vom orthodoxen Bibelglauben, noch von seiner politischen Entwicklung das Geringste mit. Dass Engels sich (unter anderem Namen, aber gleichsam unter seinen Augen) zu einem professionellen Essayisten, Literaturkritiker und Journalisten entwickelte, entging ihm völlig. Auch der pietistische Lehrherr und königlich-sächsische Konsul Heinrich Leupold hatte wohl nicht den leisesten Schimmer von den kritischen religions-, literatur- und polit-ökonomischen Anschauungen, die der Zögling aus Barmen auf seinem Kontorbock entwickelte und – bei jeder sich bietenden Gelegenheit – schriftlich ausarbeitete.

Martinistr. 11

Engels kurz vor dem Abschied aus Bremen



Obwohl Friedrich Engels, wie er einem Freund offenbarte, in der Hansestadt einen „renommistischen studiosistischen Anhauch“ pflegte – sozusagen als Ausgleich dafür, was ihm sein Vater verwehrt hatte: das ersehnte Studium an einer Universität –, renommierte er öffentlich in keiner Weise mit dem guten Ruf, den er ab 1839 als Friedrich Oswald bei vielen Lesern, namhaften Redakteuren und Herausgebern gewann und festigte. Der von einer gehörigen Portion Selbstbeherrschung begleitete autodidaktische Studier- und Schreibeifer korrespondierte mit einer für einen tatenfrohen jungen Mann gewiss nicht leicht zu wahrenden Disziplin beim konsequenten öffentlichen Verschweigen der Hervorbringungen seines zweiten Ich.

Friedrich Engels verfolgte in den Bremer Jahren interessiert die wirtschaftspolitischen Konzeptionen fortschrittlicher Ökonomen und Staatsmänner (sicherlich auch im Dialog mit dem Lehrherrn Leupold). Immerhin verkörperte sein eigener Vater den Typ des modernen Unternehmers, der als Vertreter Barmens im Komitee zur Vorbereitung des Eisenbahnbaus saß und Aktien für die Kohlebahnen zeichnete. Senior und Junior befürworteten gleichermaßen die im rückständigen und politisch zersplitterten Deutschland zunächst mühsam Fuß fassende moderne industriell-kapitalistische Entwicklung. Im Gegensatz zu Friedrich Engels senior nahm Friedrich Engels junior jedoch wachsam die von der herrschenden religiösen und ökonomischen Ideologie legitimierte und zugleich verschleierte Inhumanität der entstehenden Industriegesellschaft wahr. Nicht zufällig konnte er bereits den Unterschied zwischen traditionellen Gesellenkorporationen und der sich allmählich herausbildenden Arbeiterbewegung bestimmen. Im Übrigen waren ihm, wie seine Bremer Schriften belegen, Privilegien aller Art ein Dorn im Auge.

Die Bilanz der politischen Entwicklung von Engels‘ alias Friedrich Oswald in Bremen ist beeindruckend. Unter dem Strich steht seine Erkenntnis, dass sich die herkömmliche Familie überlebt hat und dass Feudalismus, Absolutismus und Pietismus keine Daseinsberechtigung mehr haben. So spricht er sich im Januar 1841 in seinem Essay Ernst Moritz Arndt entschieden gegen alle politischen und materiellen Vorrechte der feudalen Klasse aus und fordert die Beseitigung der Ständewirtschaft zugunsten einer neuen Entwicklungsstufe: „Keine Stände, wohl aber eine große, einige, gleichberechtigte Nation von Staatsbürgern!“

Friedrich Engels legte in Bremen den Grund zu all dem, was ihn später zum führenden Kopf der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung machen sollte. Gewiss nicht zufällig genoss er im späteren Leben den Ruf, der Didaktiker der Ideen der Arbeiterbewegung zu sein. Darüber hinaus warnte Engels bereits vor den ökologischen und sozialen Folgen der Umweltzerstörung durch den fossil geprägten industriellen Kapitalismus und erwies sich zudem als ein früher Feminist. Der Kaufmann, Journalist, Literat, Philosoph, Militärtheoretiker, Politiker und Mitbegründer des wissenschaftlichen Sozialismus verlieh dem sozialen Fortschritt im 19. und 20. Jahrhundert nachhaltige Impulse. Auf eine konkrete wirtschaftliche und gesellschaftliche Alternative zum Kapitalismus wollte er sich aus wissenschaftlichen Gründen jedoch nicht festnageln lassen. „Wir haben kein Endziel, wir sind Evolutionisten“, statuierte er 1893. Friedrich Engels kann ebenso wie Karl Marx nicht für all das haftbar gemacht werden, was nach ihrem Tod mit ihrem Erbe an Schindluder getrieben und veranstaltet wurde. Und als wenn er das geahnt hätte, stellte Friedrich Engels in seinem letzten Lebensjahr vorsichtshalber klar, dass die politische Machtergreifung der Arbeiterklasse auf demokratische und friedliche Weise erfolgen müsse, also mittels der Gewinnung der Mehrheit des Volkes.

Literatur

Martinistr. 11

Johann-Günther König: Friedrich Engels. Die Bremer Jahre. 1839 bis 1841, Bremen: Kellner-Verlag 2008. (Mit allen überlieferten Briefen, Schriften und Zeichnungen aus der neuen MEGA.)

Johann-Günther König: Kommis in Bremen 1838-1841, in: Lars Bluma (Hg.): Friedrich Engels. Ein Gespenst geht um in Europa, Begleitband zur Engelsausstellung 2020, Wuppertal 2020, S. 58-69.

Karl Marx / Friedrich Engels Werke. Band 41. Editorische Bearbeitung und Kommentierung: Rolf Hecker und Richard Sperl, Berlin: Dietz 2008. (Enthält alle Aufsätze, Gedichte und Briefe des jungen Engels aus der Zeit von Dezember 1833 bis September 1844.)

Karl Marx / Friedrich Engels Gesamtausgabe (MEGA), Berlin: Dietz ab 1975.



* Johann-Günther König

Johann-Günther König ist Autor zahlreicher Bücher. Zu seinen ehrenamtlichen Tätigkeiten gehört: Mitglied des Vorstands Klein Siemen e. V. Ehemals Vorsitzender des Fördererkreises deutscher Schriftsteller in Niedersachsen und Bremen e. V., ehemals Vorstand im Verband deutscher Schriftsteller (VS), Landesbezirk Niedersachsen/Bremen; langjähriges Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes des ver.di Landesbezirksfachbereiches Medien, Kunst und Industrie in Niedersachsen-Bremen; Gründungsmitglied und Vorsitzender des Bremer Literaturkontor e. V.

Letzte Buchveröffentlichung: "Pünktlich wie die deutsche Bahn?" Eine kulturgeschichtliche Reise bis in die Gegenwart. zu Klampen Verlag 2018, 224 Seiten, 22 €.

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