von Reiner Heyse*
Ja, auch hier in Deutschland herrscht der Klassenkrieg. Aber während die einen die „Sozialpartnerschaft“ loben und feiern, begleiten die anderen ihre Angriffe mit Klassenkampfpropaganda. Die Deutschen müssen mehr arbeiten! Der Sozialstaat ist nicht mehr finanzierbar! Krankenkassenleistungen sind zu kürzen! Arbeitsdienst und Strafgeld für Rentner einführen.
Der Klassenkrieg ist ein Verteilungskampf. Wer bekommt welchen Anteil an der Wertschöpfung im Land? Ein Kampf zwischen Lohnarbeit und Kapital. Die Zahlen von destatis zeigen sehr deutlich, dass Warren Buffett recht hat: Das Kapital gewinnt.
In der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) wird beim Volkseinkommen nur zwischen zwei Größen unterschieden: Dem Einkommen aus Lohnarbeit und dem Einkommen aus Unternehmenstätigkeit und Vermögen. Der Anteil des Volkseinkommens am gesamten Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist in den vergangenen 30 Jahren leicht gestiegen. Der Anteil der Löhne am Volkseinkommen ist im Gegensatz dazu gesunken. Das verdeutlicht, dass „Mehr“ ist vom Kapital eingesackt worden. Die Grafik zeigt vor allem den „Erfolg“ der Agenda 2010-Politik zwischen 2003 und 2018. Gerhard Schröder hatte sich zu Recht gelobt:
„Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.“ (beim World Economic Forum (WEF) in Davos, 2005).
Die Agenda 2010 ist ein Meilenstein im Klassenkrieg und ein Meilenstein im Niedergang der SPD.
Wenn man von dem langfristigen Durchschnitt der Lohnquote von 71 Prozent ausgeht, hat in den 15 Jahren zwischen 2004 und 2018 eine zusätzliche Umverteilung von 877 Milliarden Euro stattgefunden (in jeweiligen Preisen). Preisbereinigt erreichte das Volumen mit 972 Milliarden Euro fast eine Billion. Für diese grandiose Umverteilungsleistung loben die Klassenkämpfer Gerhard Schröder noch heute. Viele von ihnen verlangen eine Neuauflage – eine Agenda 2030. Begründung dieses Mal: „Putin!“. Der zwingt uns, kriegstüchtig zu werden. Da können wir uns soziale Überversorgung nicht mehr erlauben. Und Kanzler Merz kündigt folgerichtig „schmerzhafte Entscheidungen“ im kommenden Herbst an.
An der folgenden Grafik ist sehr gut abzulesen, welche gewaltigen Verschiebungen im Verteilungskampf der letzten 33 Jahre stattgefunden haben. Einen zusätzlichen „Turbo“ im Niedergang mussten die Rentnerinnen und Rentner erfahren (Quellen- und Rechenbasis in den Anmerkungen).
Das inflationsbereinigte Bruttoinlandsprodukt, grob gesprochen das reale Wirtschaftswachstum, ist in den vergangenen 33 Jahren um 55 % gestiegen. Im krassen Gegensatz dazu, hatten die realen Nettolöhne einen jämmerlichen Zuwachs um 7 %. Erst im Jahr 2015, also nach 25 Jahren, erreichte die reale Kaufkraft der Durchschnittslöhne den Wert von 1990. Noch drastischer wurde die Kaufkraft der Renten um 12 % in den Keller gedrückt. In dem langen Zeitraum von 3 ½ Jahrzehnten haben die Renten nie mehr die Höhe der noch 1990 vorhandenen Kaufkraft erreicht. Die Renten erlitten regelrecht eine Schwindsucht. Die Löhne waren noch bis 2003 die entscheidende Bezugsgröße für die Rentenhöhe. Ab 2004 wurden die Renten zunehmend von der Lohnentwicklung abgekoppelt. Das alles war politisch so gewollt.
Und um die Stimmung in der Bevölkerung für die Verschlechterung der Lebensbedingungen der mehr als 21 Millionen Menschen zu wenden, werden schwere Geschütze aufgefahren. Massive Lügen, Desinformation und Faktenunterdrückung begleiten die Propaganda der Meinungskrieger.
Die im Folgenden wiedergegebenen Zitate stehen für prototypische Behauptungen, die die Nachrichten- und Meinungslage in den Medien prägen. Durch ständige Wiederholung sind die Lügen längst zur medialen Wahrheit verfestigt worden.
„Die arbeitende Bevölkerung ächzt unter immer höheren Beiträgen für die gesetzliche Rentenversicherung“. (NOZ, 14.07.25)
Das ist definitiv falsch und bei Kenntnis der Faktenlage eine grobe Lüge. Tatsächlich ist der Beitragssatz seit 1998 von 20,3 Prozent kontinuierlich auf 18,6 Prozent im Jahr 2018 gesunken. Dieser Beitragssatz wird voraussichtlich bis 2027 auf diesem niedrigen Stand bleiben.
Besonders perfide wird die Lüge der steigenden Beiträge, wenn die Zahl der zu versorgenden Alten herangezogen wird. Die Grafik zeigt den zunehmenden Anteil der über 65jährigen an der Gesamtbevölkerung und die tatsächlich erbrachten Rentenversicherungsbeiträge. Der Anteil der Alten stieg in den vergangenen 40 Jahren um 52 Prozent und die Beiträge wurden auf den Stand von 1984 abgesenkt.
„Schon jetzt kostet das Rentensystem wahnsinnig viel Geld… Und diese Kosten werden noch viel, viel höher.“ (ZDF – „Die Wahrheit über unsere Rente“, 14.01.25)
Das ist eine weitere handfeste Lüge. Allerdings geschickt getarnt, denn wer wollte schon abstreiten, dass 390 Milliarden Euro viel Geld ist. Die Lüge besteht darin zu verschweigen, dass die tatsächlichen Kosten relativ enorm gesunken sind:
Der Anteil der Rentnerinnen und Rentner (Altersrenten, Erwerbsminderungsrenten, Witwen-/Witwerrenten) an der Gesamtbevölkerung wuchs in den letzten 30 Jahren von 19 Prozent auf 25 Prozent. Das war ein Zuwachs von 33 Prozent. Die Ausgaben der Rentenversicherung für diese Rentner ist jedoch von 9,1 Prozent auf 8,9 Prozent des BIP gesunken. Dass die Ausgaben 2003 noch 10,4 Prozent des BIP betrugen und seitdem um gewaltige 1,5 Prozentpunkte gesenkt wurden (also um 15 Prozent), ist Ergebnis der „wahnsinnigen“ Rentensenkungspolitik der Agenda 2010. Zu Berücksichtigen ist auch, dass die angeblich hohen Beträge ja verwendet werden, um 21 Millionen Menschen zu versorgen. Immerhin ein Viertel der Bevölkerung.
„Allein dieses Jahr fließen 122,5 Milliarden Euro Zuschuss vom Bund in die Rentenversicherung. Das ist knapp ein Viertel des Bundeshaushalts.“ (BILD, 04.08.25)
Diese häufig verbreitete Nachricht ist eine Variante der Lügen mit Zahlen. Die Zahlen werden einfach ohne jeglichen Zusammenhang zur zeitlichen Entwicklung und zur Relation der Gesamthaushalte in die Welt gesetzt. Diese fehlenden Einordnungen lassen sich leicht herstellen. Die Zahlen liefern wieder destatis und die DRV, die jeder Journalist, Wissenschaftler oder Politiker nutzen könnte, um ein reelles Bild der Verhältnisse zu ermitteln bzw. zu vermitteln:
2023 betrugen die „Bundesmittel gesamt“ 112,5 Mrd. Euro. Das beinhaltete die sogenannten „Zuschüsse“ (84,3 Mrd. Euro) plus der Beiträge für Erziehungsrenten ab 1992 geborener Kinder (17,3 Mrd. Euro), plus Zuschüssen zu Knappschaftsrenten (4,9 Mrd. Euro), plus Renten aus DDR-Sondersystemen (5,9 Mrd. Euro). Die behaupteten „Zuschüsse“ werden in den Medien fast immer mit den gesamten Bundesmitteln in einen Topf geworfen. Hohe Zahlen sollen Schrecken verbreiten.
Bei Betrachtung der geleisteten Bundesmittel zur Rentenversicherung ist ein eklatantes Absenken erkennbar. Der Anteil am Bundeshaushalt ist von 31 Prozent im Jahr 2004 auf 25 Prozent im Jahr 2023 gesunken (Der nur scheinbare Einbruch 2022 bis 2033 ist auf die exorbitant hohen „Corona“-Haushalte zurückzuführen).
Auch der Anteil der Bundesmittel an den gesamten Rentenausgaben der DRV ist deutlich gesunken: von 33 Prozent auf 30 Prozent.
Die gesetzlich definierten „Zuschüsse“ sollen für nicht beitragsgedeckte Renten und für eventuelle Defizite in der DRV gezahlt werden. Tatsächlich werden die nicht beitragsgedeckten Leistungen (auch versicherungsfremd genannt) bei weitem nicht ausgeglichen. Das Defizit betrug nach Angaben der DRV allein im Jahr 2023 unglaubliche 40 Mrd. Euro. Allein durch die Erziehungsrenten für vor 1992 geborenen Kinder, den gewachsenen Anpassungskosten der Ost-Renten an das West-Niveau, der zusätzlichen Belastung durch die Grundrente, um nur die wichtigsten zu nennen, hätte der „Zuschuss“-Anteil an den Rentenausgaben nicht 22,5 Prozent, sondern 33 Prozent betragen müssen. Tatsächlich wurde er aber um ein Prozent gesenkt. Eine besondere „Leistung“ der Ampelregierung war, dass sie die „Zuschuss“-Mittel in mehren Raten bis 2027 um 10 Mrd. Euro kürzte.
Als weiteres wird auch an dieser Grafik deutlich, wie verlogen die Behauptung der ständig steigenden Bundeshaushaltsbelastung durch die Rentenversicherung ist. Die Belastung durch „Zuschüsse“ ist von 21,5 Prozent auf 18,5 Prozent gesunken.
„Deutschland hat das Maß verloren … eine Staatsquote von über 50 Prozent … Schon kurzfristig könnte man durch Reformen beim Bürgergeld, der Rente und durch Subventionsabbau im Haushalt hohe zweistellige Milliardenbeträge freischaufeln.“ (Handelsblatt, 23.07.25)
Die Aussage stammt von der „Wirtschaftsweisen“ Veronika Grimm. Das angeblich verlorene Maß stellt sich in Zahlen ausgedrückt so dar:
Die Staatsquote beschreibt das Verhältnis der Staatsausgaben, hierzu werden auch sämtliche Ausgaben der Sozialversicherungen gezählt, zum gesamten Bruttoinlandsprodukt (BIP).
Über den langen Zeitrahmen von 35 Jahren hat sich die Staatsquote zwischen 45 und 50 Prozent bewegt. Deutschlands Untergang droht jetzt, weil sich die Staatsquote wieder in Richtung 50 Prozent bewegt. Die Spitzenökonomen haben sich Spitzenpositionen verdient im Verbreiten von Alarmismus und Desinformation.
Beim Vergleich der deutschen Staatsquote zum Durchschnitt aller EU-Staaten wird dieser Alarmismus noch deutlicher. Die Quote lag in Deutschland über viele Jahre unter dem EU-Durchschnitt. Jetzt erreicht Deutschland den EU-Durchschnitt. Welch ein Drama – zu lösen ganz einfach über Renten- und Bürgergeldsenkungen und überhaupt beim Sozialen.
„Die Baby-Boomer gehen jetzt erst in Rente… Wenn die Regierung nichts tut, wird der Kollaps unweigerlich kommen“ (RND, 25.08.25 – Wirtschaftsweise Monika Schmitzer)
Und der Wirtschaftsweisen-Kollege Martin Werding wusste es schon im Januar:
„Wir stehen jetzt unmittelbar vor der akuten Phase der demografischen Alterung. Die Babyboomer, die geburtenstarken Jahrgänge der 60er, 70er Jahre gehen demnächst in Rente.“ (ZDF, „Die Wahrheit über unsere Rente“, 14.01.25)
Die Daten von destatis (15. Bevölkerungsvorausberechnung, 2022) belegen die Verlogenheit der Argumente:
Die geburtenstarken Jahrgänge gehen nicht „jetzt“, oder „unmittelbar“ demnächst in Rente, sondern bereits seit sechs Jahren. Während dieser sechs Jahre sind die Rentenversicherungsbeiträge nicht nur stabil geblieben (und bleiben es noch bis 2027), sondern es sind bis 2024 bei der DRV Rücklagen in Rekordhöhe aufgebaut worden (45 Mrd. Euro). Der Rentnerzuwachs wird noch bis 2029 andauern. Danach wird die Zahl der Neurentner wieder innerhalb von acht Jahren auf das Vor-Boomer-Niveau absinken.
Diese Zusammenhänge dürften den höchstbezahlten Experten zur Genüge bekannt sein. Aber wenn sie das in den Medien erklären würden, wäre ihr Lügengebäude sofort eingestürzt. Aus dem „Kollaps“ wäre ein Problem geworden, dass ohne weiteres in den kommenden 10 bis 15 Jahren beherrscht werden könnte (siehe auch hier).
Die Zielsetzung dieser Desinformation, die umlagefinanzierte Renten weiter zu demontieren und die Beitragsgelder (Lohnanteile) der Verfügungsgewalt großer Finanzkonzerne zu unterstellen, wurde bereits in diesem Artikel und in diesem Artikel erläutert.
Fazit
Wenn die „Experten“, Politiker und Medien mit derart krassen Falschinformationen die Bevölkerung seit Jahrzehnten bearbeiten, wie soll man das bezeichnen? Als „nicht ganz korrekt?“, als „zulässige Meinungsäußerung“? Oder doch richtigerweise als bewusst erzeugte und teilweise unbewusst verbreiteten Lügen?
Es ist auf jeden Fall die verdummende Begleitmusik, die Propaganda, zu dem, was seit einigen Jahrzehnten betrieben wird: Der verschärfte Verteilungskampf zwischen Kapital und Arbeit und das Schleifen des Sozialstaates.
Wie soll man das treffend bezeichnen?
Der stinkreiche Warren Buffet bezeichnet das als Klassenkrieg – Recht hat er.
(**) Warren Buffet – Vorsitzender der Berkshire Hathaway – einer der weltweit reichsten Investoren, Vermögen 2025: 147 Mrd. $
(***) Quellen:
BIP, Preise, Bruttolöhne, Bruttorenten, Nettolöhne vor Steuerabzug, Nettorenten vor Steuerabzug: Rentenversicherung in Zeitreihen (DRV – Schriften Band 22); teilweise aktualisiert von destatis
Nettolöhne nach Steuern: bis 2003: Rentenversicherung in Zeitreihen; von 2003 – 2020: Lohnsteuertabellen www.paramentier.de; ab 2020: Lohnsteuertabellen BMF
Nettorenten nach Steuern: bis 2014 keine Steuerabzug auf Standardrente; ab 2013: https://www.finanzrechner.org/sonstige-rechner/rentenbesteuerungsrechner/#rentenbesteuerungsrechner
* Reiner Heyse, Nachrichteningenieur, war langjähriges Tarifkommissionsmitglied in der IG Metall und Betriebsrat in einem mittelständischen Betrieb in Kiel. Weitere, äußerst sachkundige Beiträge zum Thema Rente unter seniorenaufstand.de, wo auch dieser Artikel zu finden ist
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