Sieger und Besiegte
Zur Deutungshoheit des 8. Mai 1945

von Helmut Donat*

Im Mai 2023 fand in der Bremer Landeszentrale für politische Bildung eine Veranstaltung zum Thema „Der 8. Mai: Gedenken und Konsequenzen für Erinnerungskultur und Politik“ statt – einberufen von Helga Trüpel für die Europa Union und von Hermann Kuhn für die Deutsch-Israelische Gesellschaft, beide Politiker der „Grünen“. Es ging darum, welche Bedeutung der Appell „Nie wieder Krieg – Nie wieder Faschismus“ angesichts des Ukrainekrieges heute hat und welche Lehren aus dem 8. Mai 1945 zu ziehen seien. Auffallend an den einleitenden Ausführungen Kuhns und der von Trüpel moderierten Diskussion mit Abgeordneten der Bremischen Bürgerschaft war der mäßige historische Tiefgang. Der Erste Weltkrieg kam gar nicht zur Sprache. Dabei hat es nach 1918 bereits eine beachtliche „Nie wieder Krieg“-Bewegung gegeben. Ebenso haben große Teile des organisierten Pazifismus der Weimarer Republik sich unter dem Motto „Hakenkreuz und Stahlhelm sind Deutschlands Untergang“ bereits 1923/24 und erneut seit 1929/30 vehement gegen den drohenden Faschismus gewandt.

Verbrüderung in Torgau (Foto: © Donat Verlag, Bremen )

Wo viele miteinander reden und die historisch-politischen Kenntnisse eher dürftig sind, kommt zumeist Ärgerliches heraus. So verstieg sich z.B. Kai Wargalla, für die Bremer Grünen Sprecherin für Kulturpolitik und Erinnerungsarbeit, Antifaschismus und Strategien gegen Rechtsextremismus, Queer und Sport, zu der Behauptung: „Die deutsche Bevölkerung wurde am 8. Mai nicht befreit, sondern besiegt!“ Eine Aussage, die sich mehr oder minder im Fahrwasser rechtsextremistischer „Erzählungen“ bewegt. Statt sich aber mit der an ihr formulierten Kritik zu befassen, schirmte H. Kuhn seine Parteigenossin ab und erklärte, sie habe es nicht so gemeint. Dazu: Woher weiß er das? Und: Warum sagt sie etwas, das sie gar nicht so meint?

Zur Erinnerung an den 8. Mai 1945 fand in Bremen 2005 – „Sechzig Jahre und ein Tag danach – Rückschau und Ausblick“ – eine Podiumsdiskussion in der „Akademie für Arbeit und Politik“ mit diversen Zeitzeugen statt. Unter ihnen die engagierte Studiendirektorin Irmela Abramzik (1922-2014), der bei Radio Bremen tätige österreichisch-amerikanische Hörfunkjournalist und -moderator Fritz Bauchwitz, dem es mit einem Transport von Köln die Flucht nach England gelang (1924-2009), der Strafverteidiger und Autor Heinrich Hannover (1925-2023), der Arzt und Autor Horst Kalthoff (1926-2017), der Politiker und einstige Bremer Bürgermeister Hans Koschnick (1929-2016) sowie der Pädagoge, Lokalpolitiker und einstige Sturzkampfflieger Hans Jürgen Otte aus Osterholz-Scharmbeck (1921-2010), der sich am Ende des Krieges noch in russischer Kriegsgefangenschaft befand. Otte gehörte zu den wenigen deutschen Offizieren, die im Rückblick schon ihre Gefangenschaft, in der er nach eigener Aussage mehr denn je zuvor über deutsche Literatur und Kultur gelernt habe, als Befreiung empfanden. Anders als bei vielen seiner Kameraden dokumentieren seine „Erinnerungen eines Kampffliegers an Krieg und Gefangenschaft 1940-1947“ auf eindrucksvolle Weise einen Neuanfang, der frei von Bitterkeit ist und sich von der Versöhnung mit dem einstigen „Feind“ leiten lässt.

Die Teilnehmer der Debatte über den 8. Mai vor zwanzig Jahren leben inzwischen nicht mehr. Keiner von ihnen wäre auf den Gedanken von Kai Wargalla gekommen! Ist das nur ein Generationenproblem?

Nein. Sie betrachteten die bedingungslose Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 als den Tag, an dem Europa restlos von der NS-Gewaltherrschaft befreit worden und der furchtbarste Totentanz, den die Welt je erlebt hat, vorüber war. Namenloses Elend, Sorgen, Hunger und Krankheit zeigten überall ihr erschütterndes Antlitz. Hoffnungen waren zerbrochen, törichter Glaube zerstört. Blühende, lebensvolle Städte lagen in Schutt und Asche.

Trümmerlandschaften prägten die Städte. Skelette, menschliche Leiber häuften sich vor den Verbrennungsöfen der Konzentrationslager. Not, Kummer und Leid, das die Deutschen über die Völker gebracht hatten, waren längst auf sie selbst zurückgeschlagen. In der Diskussion ging es u.a. um folgende Themen: Wie sah der Alltag der Menschen nach dem Ende des Krieges aus? Welchen Problemen standen sie gegenüber? Wie wirkte das Ende der NS-Herrschaft auf ihre Moral? Was wussten sie bis dahin über die Verbrechen der Nazis? Mit welchen Gefühlen begegneten sie den Siegermächten bzw. den Nationalsozialisten? Wie stellten Sie sich ihre Zukunft vor – die eigene, die ihrer Familie und die ihres Landes? Wie gingen sie mit Verlusten um? Dem ihrer Habe und ihrer Trauer um Eltern, Geschwister, Ehepartner und Freunde? Woran hat es gelegen, dass große Teile eines ganzen Volkes offenbar in die Irre gegangen sind? Hat man sich überhaupt mit der Frage „Wie konnte es geschehen?“ beschäftigt? Zu welchen Antworten gelangten die Davongekommenen vor dem Hintergrund des Holocaust? Oder hat die Auseinandersetzung damit erst viel später begonnen?

Die Deutschen standen nach dem 8. Mai 1945 vor großen Herausforderungen, denen sie zuvor nie gegenübergestanden hatten. Neben den materiellen Schäden und Verlusten galt es, sich auch den moralischen Verheerungen zu stellen. Die Überlebenden waren Teil eines Volkes, das in seiner großen Mehrheit die NS-Herrschaft unterstützt, mitgetragen, hingenommen und eine Rebarbarisierung der Politik zugelassen hat, die in einem eklatanten Gegensatz zu den Traditionen eines humanen und übernational organisierten Deutschland stand und der Welt unermessliches Leid zugefügt hat.



Die Deutschen standen nach dem 8. Mai 1945 vor großen Herausforderungen, denen sie zuvor nie gegenübergestanden hatten. Neben den materiellen Schäden und Verlusten galt es, sich auch den moralischen Verheerungen zu stellen. Die Überlebenden waren Teil eines Volkes, das in seiner großen Mehrheit die NS-Herrschaft unterstützt, mitgetragen, hingenommen und eine Rebarbarisierung der Politik zugelassen hat, die in einem eklatanten Gegensatz zu den Traditionen eines humanen und übernational organisierten Deutschland stand und der Welt unermessliches Leid zugefügt hat. Welche Schlussfolgerungen zogen sie daraus als Angehörige einer Nation, die offensichtlich einen Irrweg eingeschlagen hat, der im 20. Jahrhundert einmalig ist? Zugleich stellte sich die Frage nach Schuld und Verantwortung. Damit einherging das Nachdenken darüber, wie damit fortan umgegangen werden sollte.

Nach dem 8. Mai 1945 waren die Kriegsgegner und Pazifisten zunächst rehabilitiert. Aber es dauerte nur wenige Jahre, dass sie erneut ins Abseits gerieten. Die Niederlage ging nicht einher mit einer aufrichtigen Reue über die begangenen Untaten und Verbrechen. Im Vordergrund standen vielmehr Entlastungslegenden, gepaart mit dem Unwillen zu trauern. Die Nazis und ihre Mitläufer, zunächst untergetaucht, krochen, vom Ost-West-Konflikt beflügelt, aus ihren Löchern hervor. Über die Vergangenheit wurde fortan der Mantel des Schweigens gelegt – nicht zuletzt zum Schaden der jungen Generation, der man die Wahrheit vorenthielt und deren Identitätsfindung man enorm behinderte bzw. auf Bahnen leitete, die der „Tätergesellschaft“ verpflichtet waren. Die Tatsache, dass die Opfer bei Entschädigungsverfahren über Jahrzehnte hinweg in der Regel leer ausgingen, während die Täter bei ihrem Berufseintritt sogar noch Vergünstigungen erhielten, stellte eine weitreichende Belastung dar und erschwert in ihren generationsübergreifenden Folgen die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, dem Rechtsextremisnus und Antisemitismus vermutlich weiterhin. Für die Zeit nach 1945 gilt: Viele Kinder profitierten, ohne daran selbst einen Anteil zu haben, von den durch Fehl- oder verfälschende Entscheidungen bei Entnazifizierungsverfahren zuerkannten Vergünstigungen, z.B. bei Rentenzahlungen an Witwen von NS-Tätern und Mittätern.

Von solchen Überlegungen zum 8. Mai 1945 war das von den Bremer Grünen veranstaltete „Erinnerungsevent“ 2023 weit entfernt. Und es ist zu befürchten, dass es heute kaum anders sein dürfte.

Über den 8. Mai zu reden, ohne sich mit den Ursachen und Folgen des Dritten Reiches zu beschäftigen, verdeutlicht einmal mehr, dass die Deutschen wieder beginnen, sich erneut aus der Verantwortung stehlen. Gleichwohl haftet ihnen der Schatten des Dritten Reiches wie eine zweite Haut an und engt sie ein. Wie sollte es auch anders sein?

Über den 8. Mai zu reden, ohne sich mit den Ursachen und Folgen des Dritten Reiches zu beschäftigen, verdeutlicht einmal mehr, dass die Deutschen wieder beginnen, sich erneut aus der Verantwortung stehlen. Gleichwohl haftet ihnen der Schatten des Dritten Reiches wie eine zweite Haut an und engt sie ein. Wie sollte es auch anders sein? Angehöriger eines Volkes zu sein, das in den Augen der Welt für zahllose Verbrechen und Grausamkeiten verantwortlich ist, wie soll das keine Spuren in den Seelen der Nachgeborenen hinterlassen? Und je weniger das bewusst ist, umso größer die Bereitschaft zu einer Flucht nach vorn, ins Ungewisse, weg aus der Last des Eingeschnürtseins, hin zu einer Politik, die sich auf mehr Verantwortung in der Welt stützt, um einer regelbasierten internationalen Ordnung die Stange zu halten und um auf der vermeintlich richtigen Seite zu stehen – statt vor der eigenen Tür zu kehren.

Hier tut sich ein Problem auf, das weit über die augenscheinlich wenig durchdachte und sich nicht gerade an den gesellschaftlichen Realitäten orientierende Beschäftigung mit der deutschen Vergangenheit hinausgeht. Die Auseinandersetzung mit ihr ist längst einem „Versöhnungstheater“ (Max Czollek) gewichen, das sich bekenntnishaft und allzu oft selbst inszeniert. Strikt vermeiden es deren Protagonisten, darauf hinzuweisen, geschweige denn Alarm zu schlagen, dass große Teile der Gesellschaft mit den Verbrechen an Juden, Sinti, Roma etc. seit vielen Jahren nichts im Sinn haben – und sich mit dem Schein nach wichtigeren Dingen befassen. Behauptungen wie die von Kai Wargalla bekräftigen diesen Trend, weil sie sich mit ihrer Interpretation des 8. Mai 1945 an der Gefühlslage der Bezwungenen orientiert und diese fortschreibt. Indem sie die „besiegte Bevölkerung“ in den Vordergrund stellt, legt sie eine – wie auch immer – klammheimliche Identifikation mit ihr nahe. Kehrseite ihrer Haltung ist, dass ihr jene, die den 8. Mai als Befreiungstag begrüßten und feierten, keine Silbe wert ist. Sie ist ein Opfer der nach 1945 behinderten Aufklärung über die Ursachen jener Kontinuität der Geistesverirrung in der deutschen Politik, die vom Kaiserreich über den Ersten und Zweiten Weltkrieg zu den Gaskammern von Auschwitz reicht und, wenn man in langen historischen Räumen denkt, vielleicht noch gar nicht zum Abschluss gelangt ist. Hätten unsere Eltern und Großeltern uns ihr Versagen vor Augen geführt und uns aufgefordert, es künftig besser zu machen, stünden wir heute im Umgang mit dem Antisemitismus und Rechtsextremismus ganz anders da.

Es geht nicht darum, was die Deutschen am 8. Mai 1945 empfunden haben oder ob ich seinerzeit ähnlich gedacht hätte. Aus heutiger Sicht ist nicht so tun, als wären Krieg und Holocaust nicht geschehen oder es Zeit sei, endlich einen Schlussstrich zu ziehen. Allein das Wissen um die Opfer und was ihnen angetan worden ist, veranlasst mich, aus rassistischen oder anderen zweifelhaften Gründen verfolgten Menschen beizustehen. Nähme ich diese Haltung nicht ein, stünde ich in der Gefahr, in der sich einst unsere Eltern und Großeltern befanden. Damit überhebe ich mich keineswegs über sie, sondern stelle klar, dass ihr Handeln im „Dritten Reich“ für mich heute keine Geltung hat und sie mir in diesem Punkt keine Vorbilder sind. Auch damit überhebe ich mich nicht über sie. Vielmehr lasse ich ihnen jene Gerechtigkeit widerfahren, die ihnen ausgeredet worden ist und die sie selbst nicht an den Tag gelegt haben. Indem ich das Band einer unreflektierten Identifikation mit dem Verhalten meiner Eltern und Großeltern durchschneide, gebe ich letzten Endes ihrem Fehlverhalten den einzig möglichen Sinn und ziehe daraus den Schluss, nicht den gleichen Fehler zu begehen. So betrachtet, fühle ich mich dem „Erbe“ ihrer NS-Vergangenheit „verpflichtet“ und gerate nicht in die zweifelhafte Versuchung, ihre Verfehlungen durch falsche Rücksichtnahmen abzumildern. Menschen, Verbrecher oder Mitläufer in ihrem Werdegang zu „verstehen“, bedeutet nicht, ihre Missetaten zu akzeptieren.

Wargalla spricht ganz aus der Sicht der Täter und Mitläufer, jedenfalls nicht aus der Sicht jener, die sich in den Jahren vor und nach 1933 gegen die Nazis in Wort und Schrift gewandt haben. Nicht die Bevölkerung insgesamt ist besiegt worden, sondern die Wehrmacht und mit ihr das letzte Aufgebot der von den Nazis in einen aussichtslosen Abwehrkampf geschickten „Volkssturm“ etc. Des Weiteren bestand das Volk nicht nur aus Nazi-Anhängern, wenn sich auch jene, die nicht mit den Wölfen heulten, angesichts der Durchhaltestrukturen und -parolen in einer hoffnungslosen Lage befanden. Doch es gab sie: Gruppen und Menschen, die den Sieg der Alliierten und die Niederlage des Dritten Reiches herbeisehnten und als Befreiung betrachteten. Ihnen die Ehre zu geben, dürfte im Rahmen einer zukunftsweisenden Erinnerungs- und Bildungsarbeit weit mehr Bedeutung haben als der Rückgriff auf eine wie immer geartete Stimmungslage von einer unterlegenen Bevölkerung, die sich Jahre zuvor an den Erfolgen der deutschen Truppen berauscht hat.

Zu denen, die sich nicht als „besiegt“ ansahen, gehört neben vielen anderen auch Erna Maria Johansen, die vor und während des NS-Regimes im Widerstand gegen die Nationalsozialisten gestanden hat. In dem von ihrer in Bremen lebenden Tochter Angelina Sörgel herausgegebenen „Kriegstagebuch“ schildert sie eindrucksvoll, wie es ihr gelungen ist, als geächtete Reformpädagogin, NS-Gegnerin und Mutter von vier Kindern den Krieg zu überstehen. Siegesmeldungen, Heldentaten oder gar Hassparolen sind in ihren Erinnerungen nicht zu finden. Inmitten einer den deutschen Eroberungen und dem NS-Regime zustimmenden Bevölkerung bewahrt sie ihre aufrechte und humane Haltung. Widrigkeiten wie Angst und Flucht, Hunger und Gewalt, Schikanen und Bedrohungen tritt sie mutig entgegen und gibt ihren Widerstand gegen das Unrechtsregime nie auf. Ihren Kindern vermittelt sie demokratische Werte und sucht, ihren Bedürfnissen gerecht zu werden.

Erna Maria Johansen wurde am 18. April 1911 in Grabow bei Ludwigslust im Mecklenburgischen in eine Arbeiterfamilie hineingeboren. Ihr Vater, als „Oberschweizer“ im Kuhstall tätig, ist im Ersten Weltkrieg 1917 in Frankreich gefallen. Ihre Mutter, aus armen Verhältnissen stammend, verdingte sich als Dienstmädchen. Sie starb bereits 1924 mit 32 Jahren an Auszehrung. Erna Maria wuchs zunächst in Berlin auf, wohin ihre Eltern auf der Suche nach Arbeit gezogen waren. Nach dem Tod des Vaters gingen die Großmutter und Mutter mit ihrer Tochter und ihren drei Söhnen nach Mecklenburg zurück. Durch die Heirat der Mutter mit dem Schneider Hermann Helmke bekam Erna Maria einen Stiefvater und bald noch einen Bruder. Als Älteste übernahm sie die Mutterrolle für die jüngeren Geschwister. Sie war klug, die Eltern erlaubten ihr den Besuch der Realschule und als einzige von den fünf Kindern erwarb sie die Mittlere Reife. Erna Maria ließ sich am evangelischen Stift Bethlehem in Ludwigslust zur Kindergärtnerin ausbilden. In jener Zeit lernte sie Henri Johansen kennen, Jugendfunktionär und Versammlungsredner der KPD aus Waren an der Müritz. 1931, nach ersten Berufserfahrungen in Rostock und Waren, folgte sie ihm nach Berlin und heiratete ihn.

Als junges Mädchen oft mit den Wandervögeln und der Naturfreundejugend unterwegs, trat sie in die Sozialistische Arbeiterjugend ein. In Berlin engagierte sie sich in dem hochangesehenen Kinderheim bei der weithin geschätzten Reformpädagogin Anna von Gierke. Durch Henri, der zu dem Kreis von Karl Korsch gehörte, eröffnete sich ihr eine zusätzlich wichtige Sphäre auf ihrem Weg in ein neues, selbstbestimmtes Leben. Korsch, wegen seiner Kritik am zunehmenden Stalinismus 1926 aus der KPD ausgeschlossen – wie später auch Henri – gilt als bedeutender Erneuerer der marxistischen Theorie des 20. Jahrhunderts. Erna Maria sog die Impulse, die sich ihr boten, begierig auf. Doch unverhofft wurde sie Mutter, ungewollt, schwebte ihr doch ein Leben in anderen Sphären vor. Gleichwohl begriff sie auch ihre weiteren Kinder als „goldene Kugeln an ihrem Bein“. Ihnen sollte es an nichts mangeln – ungeachtet der geistigen Unterdrückung und materiellen Verelendung, der Angst und Ohnmacht, die nach 1933 ihr Leben als Verfolgte prägte.

Die Widerstandsgruppe von ihr und ihrem Mann – Flugblätter transportierten sie im Kinderwagen ihres Sohnes Pjotr – flog schon bald auf. Auch die weiteren Söhne erhielten exotische Vornamen: Anatoli, Baber und Angelus – anstelle von Namen wie Wilhelm, Otto, Hermann oder gar Adolf. Mit Berufsverbot belegt, befand sich die junge Familie in tiefer Armut, musste, mit der Miete im Rückstand, die Wohnung räumen. Wie viele Freunde und Genossen vereinsamten sie immer mehr. Henri Johansen, von der Gestapo überwacht, musste Notstandsarbeiten verrichten: Leichen waschen, Friedhöfe und Straßen kehren, Schlacken sortieren… Ihr Schicksal erinnert an die Verse von Heinrich Heine: „Der Nachtwind durch die Luken pfeift, und auf dem Dachstuhllager zwei arme Seelen gebettet sind; sie schauen so blass und mager … Sie küssten sich viel, sie weinten noch mehr, sie drückten sich seufzend die Hände, sie lachten sogar und sangen manchmal, doch sie verstummten am Ende.“

Den Glauben an eine bessere Welt und Zukunft gaben sie dennoch nicht auf. Als Henri 1943 eingezogen wurde, brachte Erna Maria die vier Kinder allein durch den Krieg. Trotz aller Schwierigkeiten gelang es ihr, sie von NS-Einflüssen frei zu halten. Absichtlich kaufte sie in dem Fleischerladen ein, der nur für Juden zugelassen war. Ihre Söhne gab sie 1940/41 in die deutsch-russische Schule, wo die NS-Ideale noch keine Rolle spielten.

Zerstörte Gebäude in Berlin (Foto: © Donat Verlag, Bremen )

Die Bombardierung Berlins führte in allen Stadtteilen zu immensen Zerstörungen und Ruinenlandschaften. Schließlich mussten Frauen, Kinder und Alte die großen Städte verlassen und wurden ins westliche Ostpreußen evakuiert. Erna Maria und die Kinder lebten in neun unterschiedlichen Quartieren. Viele Frauen stießen oft auf harsche Ablehnung und mussten sich sagen lassen: „Ihr Berliner, ihr kriegt nicht ein Stück Obst von uns für Eure Kinder!“

Infolge des Vormarsches der Roten Armee flüchteten sie zurück nach Berlin und wohnten vom Spätsommer 1944 bis zum Februar 1945 in einem Behelfsheim am Tegeler Weg. Eine Fehlgeburt trennte Erna Maria von ihren Kindern, die in einem Waisenhaus, dann in einem Kinderheim unterbracht wurden. Die Zustände dort waren so katastrophal, dass sie auf eigenen Wunsch das Krankenhaus verließ, den Hilferufen ihrer Kinder folgte und – zwei von ihnen litten unter hohem Fieber – aus dem Heim herausholte. Unerwartet luden sie ihre Schwägerin und ihr Mann ein, zu ihnen nach Ribnitz in Mecklenburg-Vorpommern zu kommen. Gerade zur rechten Zeit, denn am Abend nach ihrer Abfahrt rissen Bomben eine Seitenwand ihres Behelfsheimes heraus.

Ihr Schwager, als Schlosser in einem Flugzeugwerk tätig, wo er Sabotageakte verübte und dabei unentdeckt geblieben war, täuschte aus politischen Gründen eine rheumatische Krankheit vor. Auf dem Dachboden installierte er eine Empfänger- und Sendestation für ausländische Nachrichten und Antworten darauf. Ebenso verfügte er über Mittel zum Herstellen von Flugblättern. Spät am Abend, wenn die Kinder schliefen, stiegen er, seine Frau und Erna Maria auf den Dachboden und verfassten Texte und Schüttelreime gegen den Naziwahn und die Hitler-Regierung, gegen die Menschenvernichtung und den „verruchten Krieg“. Einer der Slogans lautete, den Nerv der Zeit treffend: „Glaubt nicht an den Sieg!“

Mit Hilfe eines Setzkastens für Schulkinder druckten sie die Buchstaben auf Kleinhandzettel, was viel Zeit und Geduld beanspruchte. Sie formulierten Texte, die sich sofort einprägten und zum Weitergeben eigneten. Ende März 1945 begannen die drei mit der Verbreitung und warfen die Flugblätter in die Briefkästen. An einer Treppe fiel Erna Maria ein Päckchen mit den Blättern auf die Straße, wo sie hell aufleuchteten. Später erfuhr sie, dass Arbeiter sie auf dem Weg zur Frühschicht aufgesammelt und weiter verteilt haben. Noch vor Tagesanbruch waren die Drei wieder zu Hause. „Wenn es auch eine bescheidene Aktion blieb“, so Erna Maria, „sie war doch nicht ungefährlich und ein Zeichen des Widerstandes: für uns wie ein kleiner Triumph.“

Erna Maria Johansen (Foto: © Angelina Sörgel, Bremen )

Offenbar haben sie dazu beigetragen, dass Ribnitzer Bürger am 1. Mai 1945 den „Volkssturm“ entwaffneten und so weiteres Blutvergießen verhinderten. „Die Zeit“, erinnert sie sich, „schien stillzustehen – als hielten die Menschen den Atem an. Weiße Tücher und Laken hingen aus den Fenstern der Siedlungshäuschen; der Schwager warf ein langes rotes Fahnentuch über das Treppengeländer. So erlebten meine Söhne, wie ein Krieg zu Ende geht.“

Nach 1945 hat sie zunächst in Ribnitz als Leiterin des Sozialamtes die Fürsorge neu aufgebaut und ein Kinderheim für elternlose Flüchtlingskinder gegründet. Bei der Rückkehr ihres Mannes aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft ein Jahr später, im Juli 1946, war sie an der demokratischen Erziehungsreform in Berlin beteiligt, arbeitete in der sozialdemokratischen „Neuen Erziehung“ mit. In der pädagogischen Arbeit durch Elternarbeit und Artikel bekannt, stellte der Senat von Berlin sie als Fürsorgerin ein. Mit Klugheit, Fleiß und vielen guten Ideen machte sie nach all dem Leid noch eine Karriere im Berliner Senat für Gesundheit, Jugend und Sport und schied mit sechzig Jahren als Sozialamtsrätin und stadtweit angesehene Pädagogin aus.

In ihrer Pensionszeit tat sie, was sie schon lange hatte tun wollen: Sie veröffentlichte zwei populärwissenschaftliche Bücher über die soziale Geschichte der Kindheit und über das Leiden der Kinder im Krieg, und sie las aus ihrer nicht veröffentlichten Biographie in Berliner Buchläden vor: „Die rote Großmutter erzählt.“

Erna Maria Johansen hat ihre Kinder vor den Wirren und Grausamkeiten des Krieges und der faschistischen Ideologie beschützt. Das ist ein ganz anderer als der geläufige Blick auf den „verlorenen“ Krieg und den 8. Mai 1945: Kein Verlust, keine Scham, sondern ein Gewinn! Ein Gewinn an Freude, an Freiheit und der Perspektive auf eine demokratische und gerechte Gesellschaft. Und ein Stolz darauf, alle Schrecken des Nationalsozialismus mit aufrechter Haltung überstanden zu haben.

Das Schicksal von Erna Maria Johansen erinnert zugleich an andere tapfere Frauen und Männer, die den rassistischen und kriegerischen Losungen nicht gefolgt sind. Es mahnt uns: Nie wieder Krieg auf deutschem Boden! Nie wieder Kriegstüchtigkeit! Nie wieder Russenfurcht! Und es mahnt Vertreter der Grünen wie Kai Wargalla, Helga Trüpel, Hermann Kuhn oder Annalena Baerbock, ob es nicht angebrachter ist, statt weiter Schwerter zu schwingen, ernsthaft Lösungen anzustreben, die dem mörderischen und zerstörerischen Krieg in der Ukraine ein Ende setzen.Literatur

Angelina Sörgel (Hrsg.): Erna Maria Johansen – Aus dem Kriegstagebuch 1939-1945, Donat Verlag, 12 €

Hans Jürgen Otte: „Bloß nicht den Russen in die Hände fallen!“ Erinnerungen eines Kampffliegers an Krieg und Gefangenschaft 1940-1947, Donat Verlag, 14 €

* Helmut Donat

Jg. 1947, Bankkaufmann, Lehrer und zeitweise Lehrbeauftragter der Universität Bremen, heute als Historiker, Verleger und Publizist tätig; Mitbegründer des Arbeitskreises Historische Friedensforschung, Organisator diverser Ausstellungen sowie von Kulturtagen und -veranstaltungen, zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte des deutschen Pazifismus und Militarismus, zum „Historikerstreit“, zur „Wehrmachtsausstellung“, zum Kontinuitätsproblem der deutschen Geschichte, zur Kriegsschuldfrage von 1914 und dem deutschen Annexionismus im Ersten Weltkrieg, zu den Ursachen und Folgen des Nationalsozialismus sowie zum Völkermord an den Armeniern; für sein verlegerisches Engagement und publizistisches Wirken mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Carl von Ossietzky-Preis der Stadt Oldenburg. Lebt im Bremer Stadtteil Borgfeld.

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