Die Angst der Politiker vor dem mündigen Bürger

von Helmuth Weiss
16.03.2024



In der Schweiz hat man wieder einmal die Bürger des Landes über wichtige Fragen abstimmen lassen. Es ging um zwei Themen: die Volksinitiative «Für ein besseres Leben im Alter (Initiative für eine 13. AHV-Rente)» wurde mit über 58 % angenommen, eine zusätzliche 13. Rentenzahlung im Jahr sorgt nun dafür, dass die Rentenzahlungen aus der staatlichen Rentenkasse um über 8 % steigen. Vor allem für Klein- und Kleinstrentner – ja, auch die gibt es in der Schweiz, ca. 15 % der Rentner leben dort unter dem Existenzminimum – zumindest ein willkommenes Zubrot. In einer zweiten Abstimmung, der Volksinitiative «Für eine sichere und nachhaltige Altersvorsorge (Renteninitiative)», lehnten die Schweizer eine schrittweise Anhebung des Rentenalters von 65 auf 66 Jahre deutlich ab: 74 % stimmten dagegen. Die Stimmbeteiligung lag bei rund 58 %.

In den Medien ist von einer Sensation die Rede, ja von einer Revolution: Eine linke Initiative für den Ausbau der Sozialstaats wird von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Und das obwohl auch hier die Mehrheit der Politiker und politischen Parteien und erst recht eine geballte, konservative Medienmacht, die für ihre Propaganda ein mehr als doppelt so großes Budget zur Verfügung hatte, eindrücklich davor gewarnt hatte. Ganz nach dem Motto: Wer soll das denn bezahlen ?

Davon könnten wir in Deutschland einiges lernen.

1. Trotz übermächtiger Medien und starkem Gegenwind aus der Politik kann es gelingen, das Ruder herumzureißen, die Bevölkerung zeigt sich oft offen für eine sachliche Aufklärung, politische Propaganda ist nicht allmächtig. Dazu ist natürlich ein Mindestmaß an Aufklärung, öffentlicher Diskussion und organisierter Gegenwehr unumgänglich. Dann kann auch das Schreckgespenst vom „Untergang des Abendlandes“ nicht mehr an die Wand gemalt werden. Übrigens: Die Volksinitiative“Für ein besseres Leben im Alter“ wurde vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund unterstützt – und der DGB in Deutschland ???

2. Bis weit ins linke Lager hinein ist man hierzulande der Meinung, politische Entscheidungen sollte man den gewählten Politikern und den von ihnen ausgewählten „Experten“ überlassen. Das „gemeine Volk“ sei mit solch komplexen Fragen überfordert, weitgehend desinteressiert und nicht reif für derartige Entscheidungen. Einmal ganz abgesehen davon, dass ein derartiges Denken eher an vorbürgerliche Verhältnisse erinnert, wo Gleichheit und Freiheit der Individuen dem Denken noch fremd waren, so zeigt selbst ein oberflächlicher Blick auf Korruption, Machtintrigen und einseitiger Beeinflussung der Politiker durch mächtige Lobbygruppierungen, dass von durchgängig objektiven Entscheidungen der politischen Sphäre im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung keine Rede sein kann. Der Angst vor Machtverlust und dem Schwinden der eigenen Privilegien auf Seiten der Politik müssen die Willenskundgebungen der breiten Masse der Bevölkerung entgegen gestellt werden.

3. Beim Thema Rente arbeiten konservative Kräfte gern mit dem Gegensatz Alt versus Jung, die Alten verbessern ihre Lebenslage auf Kosten der nachwachsenden Generation. Doch selbst bei den Jungen verfing die Angstkampagne in der Schweiz, wie wir sie ja auch ganz extrem in Deutschland kennen, nicht, auch wenn hier, laut Befragungen, nur 40 % der 13. Rente zugestimmt haben und die Angstkampagne der Konservativen einen gewissen Erfolg zeitigte. Auf der anderen Seite waren es ca. 80 % der über 65jährigen, die für die 13. Rente stimmten. Natürlich gab es noch weitere unterschiedliche Bewertungen: Dass von Altersarmut Betroffene sich eher für die Volksinitiative begeistern, liegt auf der Hand. Interessant auch, wie unterschiedlich einzelne Regionen in der Schweiz abgestimmt haben: In Regionen wie Jura ( 83 % ), Genf (75 %) oder Freiburg (72 %) war die Mehrheit überdeutlich, in eher konservativen Regionen wie Appenzell Innerrhoden (31 %) oder Obwalden (40 %) deutlich geringer.

4. Die parlamentarische Demokratie, wie sie in Deutschland praktiziert wird, bedarf dringend einer Ergänzung durch unterschiedlichste Formen der direkten Demokratie. Der Denunziation des dummen Bürgers muss heftigst entgegen getreten werden und als das demaskiert werden, was es im Kern ist: Das Festhalten der Politiker an der Macht und den damit verbundenen Privilegien für sich selbst und die eigenen Parteigänger. Natürlich sind Formen der direkten Demokratie keine Selbstläufer: verbesserte Bildung und unabhängige Aufklärung, eine breite gesellschaftliche Diskussion um das Für und Wider bestimmter Maßnahmen, sind unumgänglich. Klar sollte auch sein, dass die Bereitschaft und die Fähigkeit sich auf notwendige gesellschaftliche Diskussionen einzulassen, ein langwieriger Prozess sein werden. Doch ohne des ersten Schritt wird eben gar nichts passieren, es wird beim business as usual bleiben. Dass Formen der direkten Demokratie möglich und erfolgreich sein können, zeigen die Volksentscheide in der Schweiz, die im Einzelfall vielleicht Bauchschmerzen in der „linken Seele“ hinterlassen mögen, doch in Sachen Ethik und Moral die Sphäre der Politik leicht hinter sich lassen.

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