von Manfred Steglich*
20.12.2025
Am 17. Dezember 2025 hat das Bundeskabinett die Abschaffung des Bürgergeldes und die Einführung einer neuen "Grundsicherung" beschlossen. Was die Bundesregierung als Reform verkauft, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als sozialpolitische Zeitreise zurück in die dunkelsten Tage von Hartz IV. Knapp drei Jahre nach Einführung des Bürgergeldes – das selbst nur zaghafte Verbesserungen gebracht hatte – wird das Rad nun vollständig zurückgedreht.
Sanktion statt Unterstützung
Die geplanten Verschärfungen lesen sich wie ein Katalog des Misstrauens: Bei drei versäumten Terminen beim Jobcenter droht der komplette Wegfall der Leistungen – inklusive der Wohnkostenübernahme. Das bedeutet im Klartext: Menschen, die möglicherweise psychisch erkrankt sind, die keinen festen Wohnsitz haben oder aus anderen Gründen schwer erreichbar sind, werden in die absolute Existenznot und potenzielle Obdachlosigkeit getrieben.
Joachim Rock vom Paritätischen Gesamtverband warnt zu Recht, dass die Sanktionsmöglichkeiten tief in das Existenzminimum eingreifen und gerade benachteiligte Personengruppen gefährden. Statt Menschen bei der Jobsuche zu unterstützen, verschärft diese Reform Unsicherheit und Existenzängste. Die Bundesregierung setzt damit "Verdacht vor Vertrauen" – ein fundamentaler Bruch mit den Grundprinzipien eines solidarischen Sozialstaats.
Realitätsferne Symbolpolitik
Besonders bemerkenswert: Die Reform wird nahezu keine Einsparungen bringen. Für 2026 werden lediglich 86 Millionen Euro weniger erwartet – ein marginaler Betrag angesichts des Bundeshaushalts von über 400 Milliarden Euro, entspricht dies weniger als 0,02 Prozent. In den Folgejahren sollen sogar Mehrausgaben anfallen. Der Paritätische stellt fest, dass mit den Einsparungen bei den Leistungsberechtigten der Aufbau eines bürokratischen Kontrollapparates finanziert wird. Die Reform verfehlt damit jede fiskalische Legitimation: Mehr Verwaltungsaufwand, mehr Kontrollmechanismen, mehr psychosozialer Druck – aber keine nachweisbaren strukturellen Verbesserungen.
Michael Groß von der Arbeiterwohlfahrt bringt es auf den Punkt: In den letzten fünf Jahren sind die Preise für Lebensmittel um über 36 Prozent gestiegen. Während Familien darum bangen, am Monatsende ein warmes Essen für ihre Kinder auf den Tisch zu bekommen, beschäftigt sich die Regierung damit, verpasste Termine beim Jobcenter mit der Streichung der Wohnkosten zu bestrafen. Diese Debatte geht völlig an der Realität armer Menschen vorbei.
Vermögensprüfung: Rückkehr zur Enteignung vor Unterstützung
Auch bei der Vermögensprüfung kehrt die Reform zu den härtesten Hartz-IV-Prinzipien zurück. Die Karenzzeit für Vermögen wird abgeschafft – wer arbeitslos wird, muss erst sein Erspartes aufbrauchen, bevor staatliche Hilfe fließt. Das ist nichts anderes als eine Bestrafung von Vorsorge und Eigenverantwortung. Menschen, die ein Leben lang gearbeitet und gespart haben, werden gezwungen, ihre Altersvorsorge anzutasten, bevor sie Unterstützung erhalten.
Die Lebensrealität der Betroffenen
Wie die Diakonie Deutschland zutreffend feststellt, muss ein großer Teil der Leistungsberechtigten sehr große Hürden überwinden: persönliche Probleme, Lücken in der Ausbildung oder gesundheitliche Einschränkungen. Diese Barrieren lassen sich nicht durch mehr Druck beiseiteschieben, sondern müssen aktiv bearbeitet werden. Was die Menschen brauchen, sind gezielte Maßnahmen zur sozialen und arbeitsmarktpolitischen Integration – nicht Drohungen und Existenzängste.
Die nackten Zahlen sprechen Bände: 5,5 Millionen Menschen beziehen derzeit Bürgergeld, darunter 1,4 Millionen Kinder unter 15 Jahren. Sie alle werden von dieser Reform betroffen sein. Während der Regelsatz bereits zwei Jahre in Folge nicht erhöht wurde – eine reale Kaufkraftminderung angesichts fortbestehender Inflation – werden nun die Sanktionsschrauben angezogen.
Verfassungsrechtliche Bedenken
Die Reform bewegt sich auf verfassungsrechtlich äußerst dünnem Eis. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 2019 klargestellt, dass Sanktionen von maximal 30 Prozent des Regelbedarfs zulässig sein können – eine völlige Streichung der existenzsichernden Leistungen jedoch verfassungswidrig ist. Das Grundgesetz schützt das soziokulturelle Existenzminimum als Ausdruck der Menschenwürde. Eine erneute Klage vor Karlsruhe erscheint unvermeidlich.
Politische Verantwortung
Besonders bitter ist die Rolle der SPD in dieser Regierung. Die Partei, die das Bürgergeld als Überwindung von Hartz IV gefeiert hatte, wickelt nun ihr eigenes Projekt ab – und das gegen erhebliche Widerstände aus der eigenen Parteibasis. SPD-Arbeitsministerin Bärbel Bas fungiert als "sozialpolitische Abrissbirne", wie es in der Debatte treffend formuliert wurde. Die Union setzt damit eines ihrer zentralen Wahlversprechen um, während die SPD offenbar bereit ist, ihre sozialpolitischen Grundsätze für den Machterhalt zu opfern.
Was wirklich nötig wäre
Statt auf Sanktionen und Kontrolle zu setzen, bräuchte es eine grundlegend andere Herangehensweise:
Armutsfeste Grundsicherung: Der Regelsatz muss tatsächlich ein Leben in Würde und gesellschaftlicher Teilhabe ermöglichen – nicht nur das nackte Überleben.
Investition statt Bestrafung: Die Jobcenter müssen so ausgestattet werden, dass sie Menschen durch gute Beratung, echte Förderung und nachhaltige Qualifizierung langfristig in Arbeit bringen können. Die Reform sieht aber keine zusätzlichen Mittel für bessere Betreuung vor.
Respekt und Vertrauen: Menschen in schwierigen Lebenslagen brauchen Unterstützung auf Augenhöhe, nicht Misstrauen und Gängelung. Die überwältigende Mehrheit der Leistungsbeziehenden will arbeiten – scheitert aber an strukturellen Hindernissen, nicht an mangelndem Willen.
Bekämpfung der Ursachen: Statt Symptome zu bekämpfen, müssten die Ursachen von Langzeitarbeitslosigkeit angegangen werden: fehlende Ausbildungsplätze, unzureichende Kinderbetreuung, mangelnde Gesundheitsversorgung, Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt.
Ein verheerender sozialpolitischer Rückschritt
Diese Reform ist keine Lösung für die Probleme des deutschen Arbeitsmarkts. Sie ist eine symbolpolitische Maßnahme, die auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen wird und gesellschaftliche Ressentiments bedient, statt echte Perspektiven zu schaffen.
In einem der reichsten Länder der Welt sollte soziale Sicherung nicht primär durch Repression und Kontrolle definiert werden, sondern durch Empowerment und Unterstützung. Eine Grundsicherung, die Menschen ihre Existenzgrundlage entzieht, statt echte Chancen zu eröffnen, widerspricht dem Grundprinzip eines solidarischen Sozialstaats.
Die AWO formuliert es prägnant: Was wir brauchen, ist eine Grundsicherung, die armutsfest, einfach und diskriminierungsfrei ist – eine Sozialpolitik, die Menschen nicht gegeneinander ausspielt, sondern allen ein Leben in Würde ermöglicht.
Die neue Grundsicherung ist das Gegenteil davon. Sie ist Hartz IV 2.0 – und damit ein Rückfall in eine Sozialpolitik, die Menschen entmündigt statt sie zu befähigen, die bestraft statt zu fördern, die spaltet statt zu verbinden. Es ist höchste Zeit, dass die Politik erkennt: Soziale Sicherheit ist keine Gnade, sondern ein Grundrecht. Und dieses Recht wird mit dieser Reform fundamental verletzt.
* Manfred Steglich ist Sozialwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Stadt- und Regionalforschung. Langjährige Tätigkeit in der empirischen Sozialforschung. Studien zur Sozialpolitik, insbesondere zur Armutsforschung und Segregation. Daneben Arbeit als freier Autor und Redakteur. Website: manfredsteglich.de
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